Lifestyle bis ans Lebensende

Mit ihrem Designlabel finally. entwirft Bitten Stetter Mode und Produkte für Menschen in fragilen Zeiten. Eine unerwartete Sicht auf ein Tabuthema

Lange graue Haare und zwei Arme, die den Oberkörper umschlingen, der mit einem Pflegehemd der Marke finally. bekleidet ist.
©Mina Monsef für finally.

Bei Babys ist alles anders: Eine endlose Flut von Produkten steht bereit

Schon vor dem Tag der Geburt wirft die Maschinerie attraktiver Konsumgüter ihren Motor an: Die Wiege, der Kinderwagen, der Strampler, Spieluhr und Beißring; all das gibt es in ungezählten und allen nur erdenklichen Qualitäten und Ausführungen – bis hin zur Windel in Camouflage-Optik. Individualität wird groß geschrieben, es gibt Angebote für jeden Geschmack und Geldbeutel und Eltern, Familie und Freundeskreis haben die Qual der Wahl, immer zum Besten des Nachwuchses, der klein, schwach und schützenswert ist.
Gerät hingegen ein erwachsener Mensch in eine Situation der Schwäche, egal ob kurzfristig für einen geplanten Krankenhausaufenthalt oder in einer langfristigen Pflegesituation, sieht die (Produkt-)Welt ernüchternd anders aus. Das standardisierte Krankenhaus- bzw. Pflegehemd, das rollende Nachttischelement, das chronisch zu weit weggerückt ist vom Bett, die klinische Bettwäsche, das nüchterne Verbrauchsmaterial. Krankheit reduziert das Individuum zum Patienten und schafft allein schon durch diese Klassifizierung Distanz. Wenn dann noch die gesundheitliche Situation keine Aussicht auf Besserung zeigt, dauerhafte Pflegebedürftigkeit eintritt, schauen wir betreten weg: Bye bye Individuum, willkommen in der Welt von Effizienz, Pragmatismus und Kostensensibilität.

Porträtfoto der Designerin Bitten Stetter
Designerin Bitten Stetter, Foto ©Mina Monsef

Pioniergeist, angetrieben aus eigener Erfahrung

Das ist der Moment, an dem Bitten Stetter mit ihrer Arbeit ansetzt. Stetter ist diplomierte Designerin und Trendexpertin, Mitglied des Institutes für Designforschung an der Zürcher Hochschule der Künste und Leiterin der Forschung innerhalb der Fachrichtung Trends & Identity. Stetters Interesse an der letzten Lebensphase gründet auf ihren persönlichen
Erfahrungen mit der schweren Erkrankung ihrer Mutter, die ihr Bruder und sie begleiteten. Ihre Reise endet nach mehreren Jahren, verschiedenen Operationen und Therapien und mit Unterstützung durch 24 Stunden-Pflege und mehrere Wochen auf der Palliativstation im Hospiz, wo die Mutter dann ihre letzten Monate verbrachte.

Ich konnte gar nicht fassen, dass es da nichts gibt.

Bitten Stetter stellte schnell fest, dass in der Phase der Pflege vor allem Funktionalität und Uniformität im Zentrum standen. Eine fehlende Wertschätzung von Ästhetik und die Abwesenheit ansprechend gestalteter Produkte. „Anders als bei der Geburt scheint es in dieser Phase so gut wie keine Angebote für Menschen mit einem bewussten oder individuellen Lebensstil zu geben“, sagt die Designerin. Sie fing an zu recherchieren und stellte schnell fest, dass sie relativ „allein auf weiter Flur war, bezogen darauf, dass ich stark aus dem Design komme. Es war erschreckend, ich konnte es gar nicht fassen. Da denkst du als Designerin: das gibt’s schon, dann google ich das und es gibt: nichts“.  Also fing sie an, Vorhandenes umzubauen und selbst neue Lösungen für den Lebensraum Bett zu entwerfen.

Unser Leben in der westlichen Welt ist auf Individualisierung ausgelegt und der Umgang bzw. die Sicht auf das Sterben als Teil des Lebens wird lieber ausgeklammert. Wer schwach ist, spielt keine aktive Rolle mehr in der Gesellschaft, leistet keinen Beitrag zum Bruttosozialprodukt und fällt aus dem Raster der Betrachtung. Natürlich, Alter oder Krankheit schränken den Handlungsradius von Patienten ein, aber es gebe schon noch Dinge, über die sie entscheiden könnten. Als Beispiel nennt Stetter die Farbe des Patientenhemdes: „Wenn wir nur die auswählen könnten, gäbe uns das schon ein Gefühl von Selbstbestimmtheit“, sagt Stetter. Stattdessen sehen diese Hemden in jeder Einrichtung gleich trist aus.

Es geht nicht um Schönfärberei. Es geht um Lebensverschönerung und Selbstbestimmtheit.

Design gegen Trostlosigkeit

Mit den Entwürfen, die die Designerin neben ihrem Lehrauftrag unter dem Label finally. in ihrem Online-Shop anbietet, gibt sie dem Recht auf Individualität und Lebensqualität ein materiales und ästhetisches Sprachrohr, die „nachhaltig fürsorglichen Produkte können Menschen in schweren Lebensphasen hautsinnlich begleiten“, sagt Stetter. Zudem weisen zahlreiche Erkenntnisse darauf hin, dass gutes und hochwertiges Design im Gesundheitsbereich, das den Patienten und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt rückt, z.B. bei der Einrichtung von Krankenhäusern, das Wohlbefinden oder den Heilungsprozess positiv beeinflussen kann. Bitten Stetters Arbeit ist die überfällige Antwort auf ein „funktionales Shaming-Design“ , das „Design der Trostlosigkeit“, das sich mit seiner Würdelosigkeit auch ungünstig auf die Qualität der Pflege und die Kommunikation über Pflege und Krankheit auswirke.

In die Mitte der Gesellschaft

Wir alle sind Meister der Verdrängung unangenehmer Wahrheiten. Veränderung braucht aber zuallererst Akzeptanz und deshalb muss es auch darum gehen, explizit als Hilfsmittel entwickelte Produkte aus ihrer verbrämten stigmatisierenden Ecke herauszuholen und in die alltäglichen Lebenswelten hineinzurücken. „Das wird alles verdrängt, so entsteht ein Vakuum. Und dieses Vakuum findet sich dann auch in den Produktwelten“, beobachtet Bitten Stetter. Indem sie Designprodukte schafft, die außerhalb des medizinischen Fachhandels erhältlich sind, rücken sie in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses. Was wiederholt im Alltag sichtbar wird, verliert seine Fremdheit und kann Gegenstand von Gesprächen und Beschäftigung werden. Es geht dabei nicht um Schönfärberei, es geht um das Zeigen der vielen Gesichter, die ein Thema hat. Es geht um Vielfalt. Auch deshalb ist die Arbeit von finally. so wichtig.

Mode und Accessoires für fragile Zeiten – alterslos

Die Verwendung der Entwürfe der 51Jährigen ist – und das ist wichtig – nicht auf ein Lebensalter oder die Pflegesituation in der letzten Lebensphase beschränkt. Sie markieren lediglich ihre Entstehungsgeschichte, den inneren Antrieb für ihre Entwicklung.
„Travel Wear“, Reisekleidung, nennt Bitten Stetter ihre Entwürfe für das, was sich auch als Krankenhaus-, Pflege- oder OP-Hemd bezeichnen ließe. Der schicke und funktionale Kimono/Turnarounder ist ein Begleiter. Ein überzeugend attraktives Kleidungsstück aus angenehmem natürlichem Material, multifunktional und unisex. Er trägt sich daheim als Morgenmantel ebenso wie zum Geburtstermin, bei der Blinddarm-OP oder – ja – im Pflegebett.

Andere Produkte sind Accessoires wie die textile Betttasche, die man an der Bettkante befestigt und darin Sachen wie Brille, Handy, Buch, Notizheft und Stifte verstauen kann. Oder der Handyhalter, der an der Bett-Triangel befestigt wird und das Gerät jederzeit griffbereit macht. Ideen, um das Leben aus dem Krankenhaus- oder Pflegebett heraus so angenehm wie möglich zu gestalten und die Selbstbestimmtheit in einem selbst gewählten ästhetischen Raum zu erhalten.

Konsum als Treiber für Innovation

Kritische Stimmen mögen anmerken, dass mit dem Kommerzialisieren des Pflegebereiches nur wieder eine weitere Bastion den Kräften von Kapitalismus und Marketingmachinerie unterworfen werde. Bitten Stetter hört hier aufmerksam zu, bleibt aber unbeirrt. Sieht sie doch Konsum als wichtigen Trieber für Innovation: „Konsum kann helfen zu entstimgatisieren. Sonst bleiben die Produkte in den Einrichtungen und Institutionen, sind sozusagen vom öffentlichen Bild ausgeschlossen“.

Und wenn wir selbst kurz innehalten und in uns reinhören: Wer möchte nicht weiterhin die Wahl haben – auch in einer fragilen Zeit

Das Label finally.

2021 in Zürich von Bitten Stetter gegründet, begleiten die Produkte Menschen auf ihrer Lebensreise durch unwegsame Passagen. Sie umhüllen, berühren, entwirren, spenden Trost, verbinden, geben Würde und Lebensqualität. finally. versteht Ästhetik als sozialen Klebstoff und macht es sich zur Aufgabe,  mit emphatischem Design Brücken zwischen Menschen und agilen und fragilen Lebenszeiten zu bauen.

 Design kann Atmosphären der Fürsorge mitgestalten und zu mehr Wohlbefinden verhelfen.

Bitten Stetter, Designerin & Gründerin

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Kategorie: Design, Gesellschaft, Gesundheit, Lifestyle
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